Vom Glauben reden

Psalm 22, 26

Johannes 4, 23 -30

1.Timotheus 1, 12 – 17

12. Juni 2016

3. Sonntag nach Trinitatis

“Das ist gewiss wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Jesus Christus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen.” Ein schöner Spruch, der uns erinnert an die Worte, die Jesus sprach, als er in das Haus des Zöllners Zachäus einkehrte: “Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist” (Lukas 19, 10). Im Grunde beteuren solche Worte derselben Wahrheit, die uns auch das nizänische Glaubensbekenntnis vorhält: Christus ist “für uns Menschen und zu unserm Heil vom Himmel gekommen” und er wurde “für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus.” Es sind Glaubenssätze der Gemeinde, die dem Gläubigen auch heute noch eine tiefe Wahrheit vermitteln können.

Aber wenn nun der Apostel Paulus seinem treuen Helfer Timotheus solche Worte schreibt, dann bekommen sie irgendwie einen besonderen Mehrwert. Es steht dahinter nicht nur der Glaube einer namenlosen Gemeinde, sondern auch die ganz persönliche Erfahrung eines Menschen, dem die Gnade zuteil geworden ist. Es spricht hier einer, der auf sein früheres Leben zurückblickt als auf das eines Lästerers, eines Verfolgers und eines Frevlers – aber der auch sagen kann: “Mir ist Barmherzigkeit widerfahren!” Er spielt an auf seine Bekehrung vom Christenverfolger zum Christenapostel, die Erfahrung, von der auch der Brief an die Galater und die Apostelgeschichte mehrfach berichten.

Dieses persönliche Zeugnis von einem, der verloren war und durch Gottes Gnade ein neuer Mensch geworden ist – darauf kommt es hier an! Wer in der Bibel herumblättert, findet mehrere solcher Zeugnisse. Ich denke beispielsweise an den 22. Psalm, den Psalm, der anfängt mit der erschütternden Klage: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Der Beter dieses Psalmes erfuhr dann aber irgendwie die Gnade Gottes und will davon erzählen. “Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen, (…) denn der Herr hat nicht verschmäht das Elend des Armen. (…) Dich will ich preisen in der grossen Gemeinde!” Wir wissen nicht, was diesem Psalmdichter widerfahren ist: ob es Krankheit war, oder Verfolgung, oder irgend ein anderes Elend. Worauf es hier ankommt ist diese Einzelstimme, die Stimme eines Menschen, dem Gottes Erbarmen widerfahren ist. Und dann die Folge: “Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden, und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden.”

Ein anderes Beispiel finden wir im Neuen Testament, in der Geschichte von Jesus mit der Samariterin beim Jakobsbrunnen. Das Leben dieser Frau war nicht in Ordnung; es wurde in der Stadt über sie gemunkelt. Sie war darüber unglücklich. Das Gespräch mit Jesus brachte sie aber zur Selbsterkenntnis und gleichzeitig zu einem noch viel tieferen Verstehen:“Da liess die Frau ihren Krug stehen und ging in die Stadt und spricht zu den Leuten: Kommt, seht einen Menschen, der mir alles sagt, was ich getan habe – ob er nicht der Christus sei!” Dann fügt der Evangelist noch etwas hinzu: “Es glaubten an ihn viele der Samariter aus dieser Stadt um der Rede der Frau willen, die bezeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe.” Das Zeugnis einer Menschenseele, die verloren war und durch die Gnade Gottes wiedergefunden wurde! Die Geschichte geht aber noch einen Schritt weiter. Jesus bleibt ein paar Tage bei den Samaritern, und zuletzt sagen sie zu der Frau: “Von nun an glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen, denn wir haben selber gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland!”

Es ist das selbe Schema, das wir auch in unserm Psalm haben beobachten können: Das beeindrückende Zeugnis des Einzelnen löst eine Kettenreaktion aus: “Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden!” Da sind wir dann wiederum bei dem Apostel Paulus und bei der Gnade, von der er sein Zeugnis ablegt. Er spricht die güldene Regel, “dass Christus in die Welt gekommen ist, um Sünder selig zu machen,” und direkt darauf folgt die Aussage: “Darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren (…) zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollen zum ewigen Leben.”

Christus bedient sich des Zeugnisses einzelner Gläubiger, um damit anderen, vielen, vielen anderen, den Weg zum Glauben zu öffnen.

Es ist gut, wenn wir lernen, von unsern Glaubenserfahrungen zu sprechen. Ich freue mich, wenn ich sehe, wie das manchmal in unserm spontanen Gesprächskreis zugeht. Da wird nicht nur über Allgemein-heiten gesprochen, nicht nur darüber, wie freundlich wir zueinander sind in dieser evangelischen Gemeinde. Nein – durch bestimmte Aussagen und Bemerkungen lässt auf einmal jemand sehen, wie er oder sie die Beziehung zu Gott erfährt.  Ich glaube, es ist sehr wertvoll, wenn wir solche Momente in der Gemeinde erleben dürfen; ein persönliches Wort aus persönlicher Erfahrung!

Eine Bekehrungsgeschichte braucht es nicht zu sein. Paulus – wir wissen es – hatte sein Damaskuserlebnis. Blitzartig wurde ihm klar: Dieser Jesus, den ich verfolge, will mein Heiland, mein Erlöser werden! Es gibt Christen, die von so einem Damaskuserlebnis aus eigener Erfahrung zu berichten wissen: “Da und dort, an jenem Tag, um soviel Uhr, da geschah es: Da wurde ich durch Gottes Gnade zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren!” Es gibt sogar Christen, die meinen, ein jeder, der sich Christ nennt, solle von einer solchen Erfahrung berichten können. Das wird dann aber gleich wieder zu einem Gebot: “Du sollst …!” Warum denn eigentlich? Gott handelt mit einem jeden von uns in seiner eigenen Weise, je nach Charakter, Persönlichkeit, Lebenslauf. Es ist aber ein Segen Gottes, wenn wir die einzelnen Stimmen unserer Brüder und Schwesten hören dürfen, die erfahren haben, dass unser Gott ein lebendiger Gott ist, der im Leben jedes seiner Kinder wirkt.

Es gibt in der Bibel so ein schönes Wort: “Freimut.” Meistens handelt es sich da um das mündliche Zeugnis von dem, was Gott getan hat. In der Apostelgeschichte kommt es wiederholt vor: Es handelt sich da jedesmal darum, dass die ersten Christen offen und frei erzählen von dem, was sie von ihrem Glauben erfahren haben. Noch im letzten Vers des letzten Kapitels, wo erzählt wird, dass Paulus zwei volle Jahre in Rom in seiner eigenen Wohnung verblieb, heisst es: Er predigte das Reich Gottes “mit allem Freimut, ungehindert.”

In unsern Kreisen sind wir da manchmal ein bisschien scheu. Ist das die Erinnerung an die Sowjet-Union, wo jedes Reden von  Religion unerwünscht war? Oder ist es die bürgerliche Diskretion, der man auch in Westeuropa gerne beipflichtet, und nach der Religion einfach Privatsache sei? Ich erinnere mich mit Wohlgefallen meiner Jahre in Brasilien, wo man bei einer längeren Busfahrt leicht mit einem Mitreisenden ins Gespräch kam – und es dann sein konnte, dass man gefragt wurde: “Und was ist den ihre Religion? Ach ja, und was glaubt man da denn eigentlich?” Meine Religion – davon könnte ich Ihnen so manches erzählen … Amen.

Klaus van der Grijp

 

Keine Scheidewand mehr

Lukas 9, 1 – 6

Epheser 2, 17 – 22

5. Juni 2016

2. Sonntag nach Trinitatis

“So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen!” Nicht mehr Gäste und Fremdlinge – diese Wortkombination kommt dem Bibelleser irgendwie bekannt vor. Gäste und Fremdlinge – was waren das für Leute in der Welt der Bibel? Fremdlinge – ein Fremdling ist einer, der in einem Lande wohnt, wo er nicht zu Hause ist, dessen Sprache und Sitten ihm vielleicht fremd sind. Vom Erzvater Abraham wird gesagt, dass er ein Fremder war im Lande Kanaan, weil er irgendwo aus Mesopotamien stammte. Gott hatte ihm dieses Land zwar versprochen, aber er hatte darauf keinen Rechtsanspruch. Als seine Frau starb und er sie bestatten wollte, musste er dazu von den einsässigen Hetitern ein Grundstück kaufen – und er sagte zu ihnen: “Ich bin ein Fremder und Beisasse bei euch” (1. Mose 23, 4). In späteren Zeiten, als sich die Israeliten im Lande der Verheissung niedergelassen hatten, wurde ihnen durch das Gesetz des Mose eingeschärft, Fremde und Beisassen besonders nachsichtig zu behandlen – denn sie sollten nicht vergessen, dass ihre Väter hier einmal als Fremde gewohnt hatten.

Gehörte aber das Land nun wirklich den Israeliten? Hatten sie ein Anrecht darauf? Eigentlich durften sie niemals vergessen, dass das gute Land ein Geschenk Gottes war. Sie wohnten darin durch Gottes Gnaden! In einem Psalm (39, 13) heisst es: “Denn ich bin ein Fremdling bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter.” Die Fremdlingschaft setzt sich immer noch fort! Einem Bericht aus dem 1. Buch der Chroniken zufolge (29, 15) sieht der alte König David auf sein Leben zurück und betet: “Denn wir sind Fremdlinge und Gäste vor dir wie unsre Väter alle: unser Leben auf Erden ist wie ein Schatten und bleibt nicht.” Ah! Das geht aber noch einen Schritt weiter! David sagt nicht, dass er im Lande Israel noch ein Fremdling und ein Gast ist, sondern er sagt es über sein ganzes Leben auf Erden. Jetzt geniesst er es noch, aber es bleibt nicht – es ist flüchtig wie ein Schatten.

Leben wie ein Fremdling und ein Gast auf dieser Erde – das ist also die Andeutung einer Glaubens-weise!

Mit dieser Einsicht blättern wir weiter in der Bibel und kommen zum Brief an die Hebräer. Im 11. Kapitel lesen wir über den Glauben, und was der Glaube alles vermag. Ein Prediger, dessen Name uns unbekannt ist, durchläuft da die ganze biblische Geschichte von den ersten Menschen über Noah bis Abraham, und noch weiter. Dazu sagt er dann (Vs.13): “Diese alle sind gestorben im Glauben und haben das Verheissene nicht erlangt, sondern es nur von ferne gesehen und gegruesst und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden waren.” Der Verfasser des Hebräerbriefes macht dann einen nahtlosen Übergang vom Alten zum Neuen Testament, wenn er schreibt (Vs. 26), Mose habe die Schmach Christi für grösseren Reichtum gehalten als die Schätze Ägyptens, denn Gott hatte mit ihm und mit uns etwas Besseres vor. “Sie warteten auf die Stadt, die einen festen Grund hat, dessen Baumeister und Schöpfer Gott ist” (Vs. 10). Sie alle waren Gäste und Fremdlinge, denn sie wussten: Es gab für sie eine Heimat, eine Vaterstadt, in der sie einmal wirklich zu Hause sein würden.

So – und jetzt kommen wir zu unserer Epistellesung aus dem Epheserbrief: “Ihr seid nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.” Was sind wir nun eigentlich? Immer noch Gäste und Fremdlinge, wie die Glaubenshelden aus Hebräer 11? Oder wohnen wir bereits im Haus Gottes, das er uns erbaut hat? Ich glaube, wir sind beides, je nachdem von welcher Seite man es betrachtet. So wie Martin Luther über den gläubigen Menschen gesagt hat, er sei gleichzeitig ein Sünder und ein Gerechtfertigter, so sind auch wir gleichzeitig Fremdlinge und Hausgenossen Gottes – wir haben unsere Bürgerschaft im Himmel.

Unser Vorbild sind die Jünger Jesu, die – wie wir es im Evangelium lesen – auf Wanderschaft geschickt wurden: “Ihr sollt nichts auf den Weg mitnehmen, weder Stab noch Tasche noch Brot noch Geld; es soll auch einer nicht zwei Hemden haben. Wenn ihr in ein Haus geht, dann bleibt dort, bis ihr weiterzieht. Und wenn sie euch nicht aufnehmen, dann geht fort aus dieser Stadt und schüttelt den Staub von euren Füssen.” Ein Bild der Wanderschaft, der andauernden Pilgerschaft.

Fremdlinge und Gäste … Der Apostel Paulus sieht in Gedanken vor sich die Begegnung von Gläubigen zweierlei Art: die Altgläubigen, die Juden also, denen sich Gott schon vorzeiten offenbart hat, und die Neugläubigen, die ehemaligen Heiden, die jetzt von dieser Offenbarung ihr Teil bekommen. Uns als Neugläubigen wird gesagt: Seid herzlich willkommen, ihr gehört nun auch zu uns, Alt- und Neugläubige sind von nun an Hausgenossen. Fremdlinge und Gäste sind wir gewissermassen beide; schon Erzvater Abraham war ein Fremdling. Fremdlinge sind wir auf Erden, unser Leben ist wie ein Schatten und bleibt nicht. Aber das geistliche Haus, in dem wir wohnen, ist von den Aposteln und Propheten erbaut worden, und der Eckstein ist kein anderer als Jesus Christus.

In Christus und durch Christus gibt er keine Scheidewand mehr, wir gehören alle zusammen im einen Glauben.

Nun denke ich aber noch einen Schritt weiter. In der heutigen Welt handelt es sich nicht bloss um Juden und Nichtjuden. Kriege und Katastrophen haben Menschen aus vielen Nationen zusammengewürfelt: Europäer aller Art, Asiaten, Afrikaner. Viele sind Fremde füreinander, es gibt Scheidewände, manchmal auch wirklich Mauern, wodurch sie voneinander getrennt bleiben wollen.

Aber Christus ist Mensch geworden: Mensch, nicht Europäer, Asiat oder Afrikaner. Seine Mensch-werdung ist für uns, die wir an ihn glauben, ein Zeichen, dass wir grundsätzlich alle Hausgenossen sind. Keiner darf sagen: “Dies ist mein Land, meine Kultur, mein Volkstum – und ihr seid auf unserm Boden die Fremden.” Nein! Das sind Formen des Patriottismus und Nationalismus, die sich zwar immer wieder breit machen, die aber überwunden werden sollten.

Gäste und Fremdlinge sind wir gewissermassen alle, wir sind in dieser Welt auf Pilgerschaft. Ich glaube, es ist im Sinne des Apostels Paulus, wenn wir sagen: Dadurch, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat, müssen wir uns bei all unserer Verschiedenheit doch auch als Hausgenossen verstehen. Die Einheit von Altgläubigen und Neugläubigen ist sozusagen das Modell, nach dem die zerbröckelte und zerstückelte Menschheit den Weg zur gemeinsamen Grundlage finden kann. Der Nächste spricht zwar eine andere Sprache als du, er hat vielleicht eine andere Hautfarbe, eine andere Religion. Aber wir dürfen lernen zu sagen: Du bist ein Mensch wie ich, ich bin ein Mensch wie du.

In dieser einen Welt werden wir den Weg zueinander finden, einander akzeptieren um Christi willen. Amen.

Klaus van der Grijp

Die mysteriöse Dreierzahl

Jesaja 6, 1 – 7                                                                                                              22. Mai 2016

Römer 11, 33 – 36

“Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!”Es ist ein Lobpreis des Allmächtigen, den Juden und Christen in ihren Gebeten oftmals zitieren: Die Juden in ihrem täglichen Achtzehnbittengebet, die Christen in der Vorbereitung auf das Herrenmahl. “Heilig, heilig, heilig!” Das Tris-hagion, Dreimal-Heilig, ist ein fester Bestandteil der ostkirchlichen Liturgie. Der Prophet Jesaja hörte es die Seraphinen singen vor dem Thron des Allerhöchsten: Himmlische Wesen, nicht nur zwei, wie man uns manchmal erzählt, sondern viele, ja, die ganzen himmlischen Heerscharen, von denen gesagt wird, dass jeder von ihnen drei Paar Flügel hatte –auch hier wiederum drei.

Fromme Christen verbinden diese Dreierzahl sofort mit ihrer Vorstellung von der Dreieinigkeit Gottes: Heilig ist der Vater, heilig ist der Sohn, heilig ist der Geist. Ähnlich deuten sie dann auch die Geschichte, wie der Erzvater Abraham seine drei Gäste empfing, die in ihrer Dreierzahl doch gleichzeitig den einen Gott darstellen. Wir erinnern uns der Dreieinigkeitsikone von Andrei Rubljow: sie sitzen da an einem Tisch, die lichtumkränzten Häupter zueinander hingeneigt – und für den Gläubigen sind sie soviel wie Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist.

Nun möchte ich aber hinter dem Dreieinigkeitsdogma, das bekanntlich erst im vierten nachchristlichen Jahrhundert formuliert wurde, einmal ein paar Schritte zurückgehen. Wie erklärt es sich, dass gerade diese Zahl drei so bedeutsam geworden ist? Sie ist bedeutsam in der Bibel, aber auch im weltlichen Sprachgebrauch. “Aller guten Dinge sind drei,” sagt man auf Deutsch, und in anderen Sprachen gibt es dafür ähnliche Redewendungen. In den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm lesen wir die Geschichte von einer Mutter, die drei Töchter hatte, und die dritte Tochter hatte drei Augen im Kopf! Wieviel Volkserzählungen gibt es nicht über einen König, der drei Söhne hatte – und mit dem dritten geschah dann immer etwas ganz Besonderes.

Im Alten Testament wird uns von den drei Söhnen Noachs erzählt: Sem, Cham und Jafeth – und von diesen Dreien soll das ganze Menschengeschlecht abstammen. Im Neuen Testament finden wir das Gleichnis von den anvertrauten Zentnern: Ein Mensch ging auf Reisen und vertraute sein Kapital drei Knechten an, die damit wirtschaften sollten. Und dann wir uns erzählt von dem einen und dem andern – der dritte aber … und so weiter.

Dieser Zahl drei muss wohl eine ganz elementare Bedeutung haben; sie hat ihren Ursprung bestimmt in einer allgemein menschlichen Erfahrung, wie die Zahlen fünf und zehn, die von unsern fünf Fingern herrühren, und die Zahl zwölf, die mit den zwölf Monaten des Jahres zusammenhängt.

Auf der Suche nach einer Antwort habe ich die griechischen Philosophen zu Rate gezogen. Schon der alte Pythagoras, dessen Satz über das rechtwinklige Dreieck wir in der Schule gelernt haben, hat über die Zahl drei tief nachgedacht. Wenn wir in der Geometrie von der geraden Linie – die nur eine Dimension kennt – zur Fläche übergehn wollen – also zur zweiten Dimension – dann ist die einfachst denkbare Figur das Dreieck. Und in der Räumlichkeit – also in der dritten Dimension – ist die einfachste Figur der Tetra-eder, also eine Art Pyramide, die sich aus vier Dreiecken zusammen-stellt.

Drei Dimensionen – ja, in drei und nicht mehr als drei Dimensionen besteht die Welt, in der wir leben! Wenn wir darüber nachdenken, belanden wir bei den Grundlagen der Schöpfung!  Und tatsächlich verband Pythagoras, der Philosoph aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, seine Zahlenlehre mit einer religiösen Weltanschauung. Die räumliche Welt ist aufgebaut mit Hilfe von Dreierzahlen: eins, zwei, drei – Länge, Breite und Höhe. Die materielle Welt beruht auf Dreier-zahlen, z.B. Eis, Wasser und Dampf, drei Aggregationszustände einer und der selben Materie. Auch die unsichtbare Welt – unser Denken, unsere Logik – ist in Dreischritten strukturiert. Man denke nur an den Dreischritt These, Antithese und Synthese, der noch in der marxistischen Gesell-schaftsanalyse so wichtig war.

Auch in der Götterwelt hat man dieses Prinzip schon früh verstanden. Zeus, der Gott der Menschenwelt, Poseidon, der Gott des Meeres, und Hades, der Gott der Unterwelt, regieren zusammen die ganze Schöpfung. Bei den Indern gibt es Brahma, Vischnu und Schiwa, die beziehungsweise Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung darstellen. Sie gehören zusammen, und die indischen Mystiker wissen, dass alle drei schliesslich nur Erscheinungsformen einer letzten, grundlegenden Wirklichkeit sind.

Nun kommen wir noch einmal zurück auf den Gesang der Seraphinen bei Jesaja:“Heilig, Heilig, Heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!” Alles, was die Griechen und die Inder über ihre verschiedenen Götter verteilten, ist hier in dem einen Herrn der Heerscharen zusammengebracht. Es gibt nur diesen einen: die Dreierzahl von Erde, Luft und Wasser ist voll von der Ehre dieses einen Gottes! Kann ich mir so etwas vorstellen? Nein! Es geht weit über meinen Verstand, weit über mein Vorstellungsvermögen. Also stimmt es: Gott – der Dreieinige – Vater, Sohn und Geist, die drei Personen in einem Wesen, wie es die Kirchenväter des vierten Jahrhunderts formulierten? Etwa so, wie sich im Menschen Seele, Leib und Geist unterscheiden lassen, die aber trotzdem zusammen nur diesen einen Menschen bilden?

Ich glaube es den Kirchenvätern gerne, und ich wiederhole es mit Liebe im kirchlichen Glaubensbekenntnis. Aber es ist gut, dass wir heute dazu auch noch über das Staunen des Apostels Paulus gelesen haben: ”O welche Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!” Tiefe, Weisheit, Erkenntnis – ja, das waren Grundbegriffe in der Auseinandersetzung des Apostels mit seinen Gemeinden, nicht nur mit den Römern, sondern auch mit den Korinthern und mit den Kolossern. Und wirklich, da haben wir schon wieder die Dreierzahl: Tiefe, Weisheit, Erkenntnis! Unbegreiflich sind Gottes Gerichte und unerforschlich seine Wege.

Paulus stellt daraufhin noch drei rhetorische Fragen – ja, wiederum drei, und alle drei sind es Zitate aus den Propheten des Alten Testaments: “Wer hat des Herrn Sinn erkannt? Wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?” Drei Fragen, auf die es natürlich nur eine Antworten gibt: “Keiner, keiner, keiner.” Nein, keiner ist Gott gleich, sagt uns Paulus, denn “von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge.” Im Volksmund sagt man gerne: “Aller guten Dinge sind drei.” Und das Wort Gottes sagt uns dazu: Alle Dinge sind in dreifacher Weise auf den einen Gott bezogen: in ihrem Ursprung – von Ihm – in ihrem Dasein – durch Ihn – und in ihrem Ziel – zu Ihm. In Ihm ist der Anfang, die Mitte und das Ende auch unseres Daseins in dieser Welt. “Alle Lande sind seiner Ehre voll” – oder mit den Worten des Paulus:

“Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.”

Klaus van der Grijp

 

Über das rechte Beten

1.Timotheus 2, 1 – 6a

Johannes 16, 23b – 28. 33

Unser Thema für den heutigen Sonntag ist also das Beten, das Gebet. Das Beten ist eines der elementarsten religiösen Begriffe. Eltern, die ihrem Kind eine christliche Erziehung geben wollen, fangen wahrscheinlich damit an, dem Kleinen ein einfaches Gebet beizubringen: ein Tischgebet vielleicht, oder ein Gebet vor dem Schlafengehn. Mutter oder Vater sagen es vor, dann beten sie es zusammen, zuletzt kann das Kind auch alleine sein Gebetchen sagen. Und siehe da: Was im Umgang zwischen Eltern und Kindern geschieht, das geschieht nun in anderer Weise auch zwischen Paulus und Timotheus, den der Apostel seinen rechten Sohn im Glauben nannte: “Timotheus, vergiss vor allen Dingen das Beten nicht!”

“Vor allen Dingen,” sagt er. Die Sache ist ihm also sehr wichtig. Und dann unterscheidet er zwischen Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung. Ich will nun den Rest des Abschnitts einmal liegen lassen, wie wichtige Dinge darin auch gesagt sein mögen, und mich einfach fragen: “Dieses Beten – wie funktioniert das eigentlich?”

Wir finden in der Bibel ganz unterschiedliche Beispiele davon. Erst schon einmal das Buch der Psalmen: hundert-und-fünfzig Beispiele, wie das Beten funktionieren kann! Gebete wie ein Schrei aus tiefer Verzweiflung: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen” (Psalm 22). “Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Herr, höre meine Stimme!” (Psalm 130). Psalmen des Friedens und der Freude: “Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft” (Psalm 62). “Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln” (Psalm 23). Psalmen des überschwenglichen Lobpreises: “Das ist ein köstlich Ding, dem Herrn Danken und lobsingen deinem Namen” (Psalm 92). “Singet dem Herrn ein neues Lied – singet dem Herrn, alle Welt” (Psalm 96). Jawohl, das alles sind Gebete. Gesungene Gebete vielleicht, aber singen ist nur eine intensivere Form des Betens. “Wer singt, betet doppelt,” hat der Kirchenvater Augustin einmal gesagt. Der Psalter ist eine Schatztruhe der Gebete, aus der Juden und Christen immer wieder alte und neue Schätze hervorbringen dürfen.

Der Notruf aus der Tiefe des Elends, wie manche ihn nach den Evangelien an Jesus richten, ist zweifellos eine Urform des christlichen Gebetes. “Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!” (Markus 10, 47). Es ist der Ruf des blinden Bartimäus, daher kommt nun aber auch das liturgische Kyrie, eleïson, “Herr, erbarme dich!” Im Sturm auf dem Meer rufen die Jünger: “Herr, hilf, wir kommen um!” In der frühchristlichen Gemeinde hat man diesen Ruf sicher wiederholt, so oft ein Sturm der Verfolgungen über sie losbrach. Auf Golgatha sprach einer der beiden Übeltäter, die mit Jesus gekreuzigt wurden, zu ihm: “Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!” (Lukas 23, 42) Mancher Gläubige hat diese oder doch ähnliche Worte in seiner Todesstunde wiederholt. Aus solchen Vorbildern entstand in der orthodoxen Tradition das sogenannte Jesusgebet, diese einfachen Worte, die man zahllose Male, vielleicht mit Hilfe einer Gebetsschnur, wiederholt: “Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner!”

Über die Praxis des Betens können wir Interessantes lernen aus der Apostelgeschichte. Die Gemeinde betet, der einzelne Gläubige betet. Stephanus, der erste christliche Märtyrer, rief, als er gesteinigt wurde: “Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!” (7, 59) Wiederum ein Stossgebet in äusserster Not, wie wir schon mehrere gefunden haben. Richtet sich im übrigen das Beten der Gemeinde auch auf Jesus – oder doch eher auf Gott den Vater? Wir wissen es nicht. Aber es wurde inbrünstig gebetet, soviel ist sicher.

Apostelgeschichte 4 erzählt uns, dass, nachdem Petrus und Johannes vor dem jüdischen Hohen Rat erscheinen mussten, “ (die Gläubigen) einmutig ihre Stimme zu Gott erhoben.” ‘Herr, du hast Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht (…) und nun, Herr, sieh an das Drohen der Feinde und gib deinen Knechten mit aller Freimut zu reden dein Wort.’ Und als sie gebetet hatten, erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle vom heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimut” (4, 24. 29 – 31). Ein Gebet der Fürbitte also, das auch auf die Betenden und ihre Umgebung eine mächtige Wirkung hatte. Eine ähnliche Situation in Apostelgeschichte 12. Petrus war von der römischen Besatzung gefangengenommen worden, aber – so lesen wir: “Die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott” (12, 5). Das Unglaubliche geschah: Ein Engel holte Petrus aus seinem Kerker, die Türen öffneten sich von selber, und Petrus, so lesen wir: “ging zum Hause Marias, der Mutter des Johannes, wo viele beieinander waren und beteten” (12, 12). Unaussprechliche Freude: Die Fürbitte der Gemeinde hatte Früchte gezeitigt!

Wie wollte Jesus eigentlich, dass man beten sollte? “Herr, lehre uns beten,” sagten die Jünger zu ihm.  Woraufhin Jesus ihnen das Vater-Unser vorsprach (Matthäus 6, 9 – 13). Ein Gebet mit tiefen Wurzeln im Glauben Israels. Nur die Anrede als “Vater” ist neu. Durch Jesus ist Gott dem Betenden vertrauter geworden, er weiss sich ein Kind Gottes, und das gibt dem Gebet eine besondere Innigkeit. Gott der Vater, Jesus der Herr und wir als betende Gemeinde gehören irgendwie zusammen.

“Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben” (Johannes 16, 23), Rätselhafte Worte! Wenn wir den Vater um etwas bitten …? Wir legen ihm also unsere Wünsche vor – “lieber Gott, ich möchte so gerne … bitte, bitte! In Jesu Namen, amen.” Irgendwie stimmt das nicht. Dem Christkind oder dem Weihnachtsmann können wir einen Wunschzettel vorlegen: dies und das und jenes möchte ich bekommen. Aber über allem, was Jesus uns lehrt, auch über seinem eigenen Gebetskampf in der letzten Nacht, steht ganz gross geschrieben: “Vater, dein Wille geschehe!” Beten um Gott nach unsren Wünschen zu manipulieren – das ist Aberglaube, das ist Heidentum; auch wenn wir “in Jesu Namen” hinzufügen möchten. Nicht unsere Wünsche, sondern Gott selber steht im Mittelpunkt unserer Gebete.

Da ist es gut, wenn wir uns der Lobpreisungen aus dem Psalter erinnern. Nur Einer ist all unserer Liebe, all unserer Zuneigung, all unserer Anbetung würdig. Im letzten Bibelbuch, im Buch der Offenbarung, kommt das noch einmal zum Ausdruck. Vielleicht sind es Worte, die auch die Liturgie der frühchristlichen Gemeinde geprägt haben: “Herr unser Gott, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen” (Offb. 4, 11). Und auch “Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit” (Offb. 5, 13).

      Rogate – betet! Wenn wir das Beten lernen wollen, wenn wir uns im Abenteuer des Betens engagieren wollen, dann gibt die Bibel uns dazu viele, viele Hinweise. Möge Gott uns helfen, in der Lehrschule des Betens unsere Fortschritte zu machen. Amen.

Klaus van der Grijp

Mit Christus bekleidet

Matthäus 11, 25 – 30

Kolosser 3. 12 – 17

Der Brief an die Kolosser! Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Kolossä, einer Kleinstadt, zirka 170 km östlich von Ephesus in Klein-Asien. Über Kolossä wissen wir recht wenig, aber was Paulus da über Jesus Christus schreibt darf man in mancher Hinsicht “kolossal” nennen. Jesus Christus, so sagt er, habe nicht nur seine Bedeutung für die Gläubigen und für die Kirche, er sei nicht nur da als unser Heiland und Erlöser. Nein, er habe eine weltweite, kosmische Bedeutung. “In Ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare (1,16). Denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig” 2, 9).

Nun denkt euch, was es bedeutet, wenn ihr als Gläubige diesem Christus angehört! Die Sache ist geheimnisvoll und festlich. Eigentlich seid nicht mehr ihr es, die lebt, sondern “euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet auch ihr offenbar werden mit Ihm in Herrlichkeit” (3, 3 – 4). Das sind ganz grosse Worte. Nun handelt es sich aber darum, diese grossen Worte in unsere tägliche Wirklichkeit umzusetzen. Davon handeln die Verse, die wir vorhin gelesen haben.

Der Apostel Paulus sieht dabei zwei verschiedene Bewegungen: die eine, die von aussen auf uns zukommt; die andere, die sich in unserm Innersten vollzieht. Den beiden Bewegungen wollen wir nachgehen. Für dasjenige, was von aussen her auf uns zukommt, gebraucht Paulus das Zeitwort “anziehen”, so wie man ein Kleid oder einen Mantel anzieht. “Zieht an, als die Auserwählten Gottes, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld. (…) Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.” Dieses Anziehen ist auch sonst bei Paulus ein wichtiger Begriff. Im Epheserbrief ermuntert er uns, die Waffenrüstung Gottes anzuziehen: unsere Lenden zu umgürten mit Wahrheit, das Panzer der Gerechtigkeit anzuziehen und uns den Helm des Heils auf den Kopf zu setzen (6, 13, 14, 17). “Die Waffen des Lichtes” sollen wir anlegen, so heisst es im Römerbrief (13, 12).

Wie ein Kleid dürfen wir dies alles anziehen, so schreibt er den Christen in Kolossä: herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld. Ihr braucht es nicht aus euch selber hervorzurufen – das könntet ihr auch gar nicht. Es wird euch geschenkt, weil ihr zu Jesus Christus gehört. Es sind seine Eigenschaften – haben wir in das nicht heute schon im Evangelium gelesen?

Der Heiland vergleicht es da mit einem sanften Joch und mit einer leichten Last. “Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig!” Diese Eigenschaften können sich auf uns übertragen durch den täglichen, liebevollen Umgang mit ihm, so wie es in der Ehe vorkommen kann, dass ein stolzer, hochmütiger Mann etwas mitbekommt von der Bescheidenheit und Sanftmut seiner Frau. Es ist das Bild Christi, das nach und nach beim Christen sichtbar werden kann. Martin Luther spricht wiederholt von der “fremden Gerechtigkeit”, von einer Gerechtigkeit, die wir uns nicht durch unsere Anstrengung verdienen, sondern die von aussen her auf uns zukommt.

Hier im Kolosserbrief sagt Paulus es nicht von der Gerechtigkeit, sondern vom herz-lichen Erbarmen, von der Freundlichkeit, der Demut, der Sanftmut, von der Geduld. Bekleidet euch damit – zieht es an! Über alles, zieht die Liebe an, die da ist das Band der Vollkom-menheit.

In den folgenden Versen des Kolosserbriefes spricht Paulus aber auch von dem, was sich in unserm Inneren regt, dort wo der Mensch am meisten sich selbst ist: im Herzen. “Der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe – im Leibe der Gemeinde – regiere in euren Herzen.” Das entspricht wohl ungefähr dem, was wir im Evangelium gelesen haben: “Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, (…) so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.” Es regt sich etwas in unserem Innern – oder muss ich  sagen: Die Unruhe hört auf, sich zu regen? Wir erfahren den Frieden des Herrn, wir finden Ruhe für unsre Seelen. In uns wird es still wie auf stillem Wasser – die Gestalt Christi spiegelt sich in uns!

“So lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen,” ermutigt uns Paulus weiter. “Unter uns wohnen …” Da haben wir wieder so ein Zeitwort, vergleichbar mit “anziehen” oder “sich bekleiden”. Gott verheisst es uns, wenn Er von sich selber spricht: “Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein” (2. Korinthier 6, 16). Und der auferstandene Christus spricht: “Öffne nur die Tür deines Herzens, so werde ich zu dir eingehen und das Abendmahl mit dir halten und du mit mir” (Offenbarung 3, 20).

Wohnen in meinem Herzen … Wie darf ich mir das vorstellen? Ich glaube: in der Form einer grossen Liebe, einer ganz grossen und mächtigen Liebe, die mein ganzes Wesen erfüllt. “Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen!” Es ist nicht nur eine Feststellung: Ihr seid gläubig, also nun wohnt Christus bei euch. Nein, es ist auch eine Ermutigung, eine Forderung: Lasst es so sein! Lasst es reichlich bei euch wohnen.

Was kann ich tun, um das Wort Christi reichlich bei mir wohnen zu lassen? Das ist eine direkte Frage an uns. “Das Wort Christi” – es wird uns jeden Sonntag in der Kirche gepredigt. Also … sollen wir jeden Sonntag in den Gottesdienst gehn? Das wäre immerhin schon etwas. Aber ist es auch reichlich? Wohnt es auch reichlich bei uns, dort wo wir wohnen? Ich denke vielmehr an den täglichen Umgang mit dem Wort Gottes, an eine alltägliche Bibelandacht, einerlei wie man das im einzelnen einrichten will. Ich denke an das Nachsinnen über bestimmte Schriftworte, die dich beeindruckt haben und die dir irgendwie – vielleicht auch bei der Arbeit – im Gedächtnis bleiben.

Was uns an Christus bindet kommt also von aussen: wir sind mit seinem Wesen bekleidet – und gleichzeitig von innen: Wir haben seinen Frieden im Herzen und sein Wort wohnt reichlich bei uns. Wir können darüber miteinander reden: “Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit” und nicht zuletzt … wir können davon singen! Das sei uns mit allem Nachdruck an diesem Sonntag Cantate gesagt: “Mit Psalmen, Lobgesängen und geist-lichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen!” Da sind wir ja als Lutheraner besonders gesegnet. So viele wunderschöne Kirchenlieder haben wir, von Martin Luther, von Paul Gerhard, von Jochen Klepper und von vielen anderen. Und noch dazu die Psalmen, die zeitlose Liedersammlung des Volkes Israel. Da sind Lieder, die uns tief ins Herz dringen können, die wir singen im Gottesdienst, vielleicht auch im Kirchenchor, wenn wir dem angehören, aber sicher auch zu Hause, oder die wir für uns selber summen können, ganz leise, bei der Arbeit. Im christlichen Haushalt soll nicht nur die Bibel, sondern immer auch das Gesangbuch in Griffnähe sein. “Singt Gott dankbar in eurem Herzen.” Das kann heissen: Singt, weil ihr in eurem Herzen Gott dankbar seid. Es kann ebenso gut heissen: Seid Gott dankbar, also singt ihm in eurem Herzen. Wir wollen darüber nicht entscheiden. Wichtig ist es heute, dass es einen lebendigen, warmen Zusammenhang geben soll zwischen Gott, unsrem Herzen und unsren Liedern! Amen.

Klaus van der Grijp