Das Evangelium nach Johannes

Das Johannesevangelium nimmt im Neuen Testament eine ganze besondere Stellung ein. Es wurde später geschrieben als die drei anderen – die sogenannten synoptischen – Evangelien, sicher auch später als die Briefe des Apostels Paulus, die auf die Ereignisse in den frühesten christlichen Gemeinden reflektieren. Das “vierte Evangelium” betrachtet die Erscheinung Jesu Christi von einem gewissen Abstand und vermittelt uns vom ersten Kapitel an Einsichten, die bei den Synoptikern erst nach und nach durchschimmern.

Statt der Legenden über Christi Geburt knüpft es bei der biblischen Schöpfungserzählung an: “Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.” Bei Johannes heisst es: “Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.” Der Sinn eines Wortes ist Kommunikation. Es gehört zum Wesen Gottes, dass er mit seiner Schöpfung kommunizieren will; dass er Verbindung zu ihr sucht. In den folgenden Versen verbindet Johannes dieses Wort mit Leben und mit Licht, zwei Kernbegriffe, die im weiteren Text zurückkommen werden. “Glaubt an das Licht, so lange ihr’s habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet.”

Die vielen Missverständnisse und Fehlinterpretationen zwischen Gott und Mensch, von denen die Bibel uns erzählt, bringt Johannes gleich auf den Punkt: “Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.” Dann fährt er fort: “Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.” Damit zielt er auf Christus: göttliches Wesen in menschlicher Gestalt. Und schon im ersten Kapitel des Evangeliums erfahren wir den letztendlichen Sinn der Offenbarung Christi. So bald Johannes der Täufer ihn erblickt, sagt er: “Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!”

Christi Leiden, das aber gleichzeitig eine geheimnisvolle Erhöhung bedeutet, wirft seine Schatten voraus. Die Geschichte von der kupfernen Schlange, deren Anblick den tödlich Verwundeten Heilung brachte, öffnet uns den Blick auf den gekreuzigten Christus: “So muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.” Von dieser Erhöhung ist auch wieder die Rede, wenn Jesus das Opfer seines Lebens mit dem Weizenkorn vergleicht, das, um viel Frucht zu bringen, in die Erde fallen muss. “Und wenn ich von der Erde erhöht werde, so will ich alle zu mir ziehen.” Bald darauf, wenn Jesus weiss, dass seine Stunde gekommen ist, sagt er: “Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm.”

Im Vergleich zu den synoptischen Evangelien bringt Johannes viele Worte Jesu und nur eine beschränkte Zahl von Wundern und anderen Werken. “Im Wort war das Leben,” so hiess es schon im Prolog, und in einer kritischen Stunde sagt ihm der Jünger Simon Petrus: “Du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist.” Die Wundertaten Jesu beschränken sich bei Johannes auf sieben; er nennt sie nicht Wunder, sondern “Zeichen”, also Hinweise auf etwas, das über die gegebene Situation hinausgeht. Es fängt an mit der Hochzeit zu Kana, wo das Wasser zu Wein wird, und es endet mit der Auferweckung des Lazarus von den Toten. Alle diese Zeichen können aber mehrdeutig sein und bedürfen deshalb erklärender Worte. Wort und Zeichen gehören bei Johannes unverbrüchlich zusammen.

Im 6. bis 12. Kapitel des Evangeliums werden, nebst anderen Themen, die Streitgespräche mit den Führern der Juden dargestellt. Sie illustrieren die Aussage, dass “das Licht in der Finsternis scheint, und dass die Finsternis es nicht ergriffen hat.” Die Kapitel 13 bis 17 umfassen die Gespräche Jesu mit seinen Jüngern am Abend vor dem Passafest, wobei aber die Deutung von Brot und Wein auf Leib und Blut Christi fehlt. Diese ist schon im 6. Kapitel, im Zusammen-hang mit der Speisung der Fünftausend, vorweggenommen. Statt dessen liegt aber der Nachdruck auf dem Gebot der Liebe, veranschaulicht in der Demut des Meisters, der seinen Jüngern die Füsse wäscht, und kulminierend im hohepriesterlichen Gebet: “für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, (…) und damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.”

Die Passionsgeschichte, Kapitel 18 und 19, macht anschaulich, dass Jesus die Seinen “geliebt hat bis an das Ende.” Königlich ist seine Haltung im Verhör durch den Statthalter Pilatus: “Ich bin ein König – ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.” Jesu Stimme hören und an die Wahrheit glauben, dass ist die stets wiederholte Absicht des Evangelisten. Wenn der Heiland gestorben ist und Blut und Wasser aus seiner verwundeten Seite fliessen, richtet er sich an die Leser damaliger und späterer Zeiten: “Der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiss, dass er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubt.”

Das Osterereignis bekrönt das ganze Evangelium. Thomas, der an die Auferstehung des Meisters gezweifelt hatte, sieht die Nägelmale des Auferstandenen und spricht daraufhin das letzte und endgültige Glaubensbekenntnis aus: “Mein Herr und mein Gott!” Und das Johannes-evangelium schliesst wiederum mit einem Wort an den Leser: “Viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.” Das soll auch uns gelten, Lesern des 21. Jahrhunderts.

Klaus van der Grijp

Das Buch Jeremia

Jeremia

Das Buch Jeremia nimmt in de Bibel einen besonderen Platz ein. Es zeigt uns einen ent-scheidenden Wendepunkt in der Geschichte Israels: den Abschluss einer fünfhundertjährigen Existenz als selbständiges Königreich und den Beginn einer über viele Grenzen hinweg-reichenden religiösen Gemeinschaft, die noch heute existiert.

Das Reich der Könige David und Salomo war schon ± 930 v.Chr. in zwei Reiche getrennt: das Nordreich (“Reich der zehn Stämme”), mit der Hauptstadt Samaria, und das kleinere Südreich Juda, mit der Hauptstadt Jerusalem. Das Nordreich war im Jahre 722 von den Assyrern erobert worden, wohingegen das Königreich Juda bis 586 überlebte. In der Regierungszeit des Königs Josia (640 – 609) gab es in Juda eine religiöse Besinnung, wodurch alte Traditionen neue Bedeutung bekamen (siehe 2. Könige 22 – 23). Der Prophet Jeremia trat in dieser Periode erstmals an die Öffentlichkeit. Er musste zusehen, wie Juda verzweifelt seinen Weg suchte zwischen den beiden Grossmächten: Ägypten einerseits, und Babylonien mit seinem Grosskönig Nebukadnezar (605 – 562) andererseits, der mit kühnen Feldzügen den ganzen vorderen Orient unter seine Gewalt brachte. Die judäischen Könige Jojakim (609 – 598) und Zedekia (597 – 586), die sich militärische Unterstützung von Ägypten erhofften, erfuhren den Zorn des Gross-königs. Zuerst wurde ein Teil der Einwohner Jerusalems nach Babylonien deportiert und die kostbaren Kultgeräte aus dem Tempel mitgenommen, dann ging auch die ganze judäische Elite ins Exil.

Diese Ereignisse regten aber unverhofft eine neue, starke Bewusstwerdung des jüdischen Volkes an. Die Besinnung auf sein Missgeschick führte zu einer prophetisch-kritischen Betrachtung der eigenen Vergangenheit. Ähnlich wie Jeremia es seinen Zeitgenossen vorhielt, wurde in Israel alle Wohlfahrt als Segen auf das Halten der göttlichen Gebote verstanden, alles Elend und zuletzt auch das nationale Desaster als Konsequenz von Israels Untreue. Diese Deutung der Geschichte finden wir zurück in den Bibelbüchern Deuteronomium, Josua, Richter, 1. und 2. Samuel und 1. und 2. Könige. Die Alternative “Segen oder Fluch”, wie sie in Deutero-nomium 28 systematisch dargestellt wird, entspricht ganz der prophetischen Verkündigung Jeremias.

Jeremia hielt dem Volk in jenen bangen Jahren aber nicht nur das göttliche Gericht vor. Er wies ihm auch den Weg in eine Zukunft, in der Gott sich wiederum seinem Volk zuwenden, ihm die Sünden vergeben und einen “neuen Bund” mit ihm schliessen wird. Das Volk wird seinem Gott aus reiner Liebe gehorchen: “Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben” (Jeremia 31, 31). Ein Nachkomme Davids, ein “gerechter Spross”, wird Recht und Gerechtigkeit schaffen (Jeremia 33, 15).

Bei diesen Verheissungen schliesst nun das Neue Testament nahtlos an. Wenn Jesus beim letzten Abendmahl den Kelch nimmt und spricht: “Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden” (Matthäus 26, 28), so bezieht er sich wörtlich auf den “neuen Bund”, von dem Jeremia schon sprach. Matthäus 5 – 7 (die Bergpredigt) atmet den selben Geist wie Jeremia 31 – 33. Jesus hat keineswegs eine andere Religion gründen wollen als die, worin er selber bis zu seinem letzten Atemzug gelebt hat. “Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen” (Matthäus 5, 17).

“Das Blut, das vergossen wird für viele” – ja, die Christen haben den Tod Jesu als ein Sühneopfer verstanden. Durch dieses Opfer, so verstehen sie es, wird ihnen der Weg zu Gottes Gnade gebahnt. Dass die gläubigen Juden es anders sehen, kann man ihnen nicht übel nehmen. Hätten die Christen doch nur mehr im Sinne der Bergpredigt gelebt! Juden und Christen sind parallele Wege gegangen und befinden sich noch heute, trotz macher Unterschiede, in vergleich-barer Lage. Die Juden hoffen auf die kommende Gottesherrschaft – auf ihren Messias. Die Christen bekennen, dass in Jesus von Nazareth der Messias gekommen ist; sie loben Gott dafür, und … sie warten, nicht viel anders als die Juden, auf Christi Wiederkunft, auf eine erfüllte Zukunft. In der langen Wartezeit bemühen sich Juden und Christen, nach Gottes Geboten zu leben.

Seit dem 19. Jahrhundert wird christlicherseits der Begriff “Heilsgeschichte” verwendet. Man versteht darunter die aufeinander folgenden Stufen eines göttlichen Planes, der von der Schöpfung bis zur Vollendung gedacht ist. Nach diesem Schema steht dann Leben, Tod und Auferstehung Christi in der Mitte dieser Geschichte; alles was vorher geschah, ist gewisser-massen Vorbereitung, was nacher kommt ist Gegenwart, Zukunft und Eschatologie. Also stünden die Propheten des Alten Testaments dann irgendwo zwischen Anfang und Mitte. Man kann das heilsgeschichtliche Schema freilich auch beanstanden als ein Produkt menschlicher Systematik, indem man benachdruckt, dass Gottes Güte für und für dieselbe ist und dass jeder, der an Ihn glaubt, in welcher Ära er auch lebt, zum Heil berufen ist.

Das Buch Jeremia ist für jeden, der es liest, spannende Lektüre. Mehr als irgend ein anderes Buch der Bibel schenkt es uns Einsicht in das innere Leben der Hauptperson: in seinen Zweifel und seine Verzweiflung, in seinen Kampf mit Gott und mit sich selber, in seinen Widerstand und seine Ergebung. Die schwankende Politik seiner jüdischen Heimat zwischen den beiden Gross-mächten, Ost und West, lässt sich gut projizieren auf unsere heutige Politik in der Ukraine.

Klaus van der Grijp