Über das rechte Beten

1.Timotheus 2, 1 – 6a

Johannes 16, 23b – 28. 33

Unser Thema für den heutigen Sonntag ist also das Beten, das Gebet. Das Beten ist eines der elementarsten religiösen Begriffe. Eltern, die ihrem Kind eine christliche Erziehung geben wollen, fangen wahrscheinlich damit an, dem Kleinen ein einfaches Gebet beizubringen: ein Tischgebet vielleicht, oder ein Gebet vor dem Schlafengehn. Mutter oder Vater sagen es vor, dann beten sie es zusammen, zuletzt kann das Kind auch alleine sein Gebetchen sagen. Und siehe da: Was im Umgang zwischen Eltern und Kindern geschieht, das geschieht nun in anderer Weise auch zwischen Paulus und Timotheus, den der Apostel seinen rechten Sohn im Glauben nannte: “Timotheus, vergiss vor allen Dingen das Beten nicht!”

“Vor allen Dingen,” sagt er. Die Sache ist ihm also sehr wichtig. Und dann unterscheidet er zwischen Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung. Ich will nun den Rest des Abschnitts einmal liegen lassen, wie wichtige Dinge darin auch gesagt sein mögen, und mich einfach fragen: “Dieses Beten – wie funktioniert das eigentlich?”

Wir finden in der Bibel ganz unterschiedliche Beispiele davon. Erst schon einmal das Buch der Psalmen: hundert-und-fünfzig Beispiele, wie das Beten funktionieren kann! Gebete wie ein Schrei aus tiefer Verzweiflung: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen” (Psalm 22). “Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Herr, höre meine Stimme!” (Psalm 130). Psalmen des Friedens und der Freude: “Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft” (Psalm 62). “Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln” (Psalm 23). Psalmen des überschwenglichen Lobpreises: “Das ist ein köstlich Ding, dem Herrn Danken und lobsingen deinem Namen” (Psalm 92). “Singet dem Herrn ein neues Lied – singet dem Herrn, alle Welt” (Psalm 96). Jawohl, das alles sind Gebete. Gesungene Gebete vielleicht, aber singen ist nur eine intensivere Form des Betens. “Wer singt, betet doppelt,” hat der Kirchenvater Augustin einmal gesagt. Der Psalter ist eine Schatztruhe der Gebete, aus der Juden und Christen immer wieder alte und neue Schätze hervorbringen dürfen.

Der Notruf aus der Tiefe des Elends, wie manche ihn nach den Evangelien an Jesus richten, ist zweifellos eine Urform des christlichen Gebetes. “Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!” (Markus 10, 47). Es ist der Ruf des blinden Bartimäus, daher kommt nun aber auch das liturgische Kyrie, eleïson, “Herr, erbarme dich!” Im Sturm auf dem Meer rufen die Jünger: “Herr, hilf, wir kommen um!” In der frühchristlichen Gemeinde hat man diesen Ruf sicher wiederholt, so oft ein Sturm der Verfolgungen über sie losbrach. Auf Golgatha sprach einer der beiden Übeltäter, die mit Jesus gekreuzigt wurden, zu ihm: “Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!” (Lukas 23, 42) Mancher Gläubige hat diese oder doch ähnliche Worte in seiner Todesstunde wiederholt. Aus solchen Vorbildern entstand in der orthodoxen Tradition das sogenannte Jesusgebet, diese einfachen Worte, die man zahllose Male, vielleicht mit Hilfe einer Gebetsschnur, wiederholt: “Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner!”

Über die Praxis des Betens können wir Interessantes lernen aus der Apostelgeschichte. Die Gemeinde betet, der einzelne Gläubige betet. Stephanus, der erste christliche Märtyrer, rief, als er gesteinigt wurde: “Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!” (7, 59) Wiederum ein Stossgebet in äusserster Not, wie wir schon mehrere gefunden haben. Richtet sich im übrigen das Beten der Gemeinde auch auf Jesus – oder doch eher auf Gott den Vater? Wir wissen es nicht. Aber es wurde inbrünstig gebetet, soviel ist sicher.

Apostelgeschichte 4 erzählt uns, dass, nachdem Petrus und Johannes vor dem jüdischen Hohen Rat erscheinen mussten, “ (die Gläubigen) einmutig ihre Stimme zu Gott erhoben.” ‘Herr, du hast Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht (…) und nun, Herr, sieh an das Drohen der Feinde und gib deinen Knechten mit aller Freimut zu reden dein Wort.’ Und als sie gebetet hatten, erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle vom heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimut” (4, 24. 29 – 31). Ein Gebet der Fürbitte also, das auch auf die Betenden und ihre Umgebung eine mächtige Wirkung hatte. Eine ähnliche Situation in Apostelgeschichte 12. Petrus war von der römischen Besatzung gefangengenommen worden, aber – so lesen wir: “Die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott” (12, 5). Das Unglaubliche geschah: Ein Engel holte Petrus aus seinem Kerker, die Türen öffneten sich von selber, und Petrus, so lesen wir: “ging zum Hause Marias, der Mutter des Johannes, wo viele beieinander waren und beteten” (12, 12). Unaussprechliche Freude: Die Fürbitte der Gemeinde hatte Früchte gezeitigt!

Wie wollte Jesus eigentlich, dass man beten sollte? “Herr, lehre uns beten,” sagten die Jünger zu ihm.  Woraufhin Jesus ihnen das Vater-Unser vorsprach (Matthäus 6, 9 – 13). Ein Gebet mit tiefen Wurzeln im Glauben Israels. Nur die Anrede als “Vater” ist neu. Durch Jesus ist Gott dem Betenden vertrauter geworden, er weiss sich ein Kind Gottes, und das gibt dem Gebet eine besondere Innigkeit. Gott der Vater, Jesus der Herr und wir als betende Gemeinde gehören irgendwie zusammen.

“Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben” (Johannes 16, 23), Rätselhafte Worte! Wenn wir den Vater um etwas bitten …? Wir legen ihm also unsere Wünsche vor – “lieber Gott, ich möchte so gerne … bitte, bitte! In Jesu Namen, amen.” Irgendwie stimmt das nicht. Dem Christkind oder dem Weihnachtsmann können wir einen Wunschzettel vorlegen: dies und das und jenes möchte ich bekommen. Aber über allem, was Jesus uns lehrt, auch über seinem eigenen Gebetskampf in der letzten Nacht, steht ganz gross geschrieben: “Vater, dein Wille geschehe!” Beten um Gott nach unsren Wünschen zu manipulieren – das ist Aberglaube, das ist Heidentum; auch wenn wir “in Jesu Namen” hinzufügen möchten. Nicht unsere Wünsche, sondern Gott selber steht im Mittelpunkt unserer Gebete.

Da ist es gut, wenn wir uns der Lobpreisungen aus dem Psalter erinnern. Nur Einer ist all unserer Liebe, all unserer Zuneigung, all unserer Anbetung würdig. Im letzten Bibelbuch, im Buch der Offenbarung, kommt das noch einmal zum Ausdruck. Vielleicht sind es Worte, die auch die Liturgie der frühchristlichen Gemeinde geprägt haben: “Herr unser Gott, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen” (Offb. 4, 11). Und auch “Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit” (Offb. 5, 13).

      Rogate – betet! Wenn wir das Beten lernen wollen, wenn wir uns im Abenteuer des Betens engagieren wollen, dann gibt die Bibel uns dazu viele, viele Hinweise. Möge Gott uns helfen, in der Lehrschule des Betens unsere Fortschritte zu machen. Amen.

Klaus van der Grijp