Jeremia
Das Buch Jeremia nimmt in de Bibel einen besonderen Platz ein. Es zeigt uns einen ent-scheidenden Wendepunkt in der Geschichte Israels: den Abschluss einer fünfhundertjährigen Existenz als selbständiges Königreich und den Beginn einer über viele Grenzen hinweg-reichenden religiösen Gemeinschaft, die noch heute existiert.
Das Reich der Könige David und Salomo war schon ± 930 v.Chr. in zwei Reiche getrennt: das Nordreich (“Reich der zehn Stämme”), mit der Hauptstadt Samaria, und das kleinere Südreich Juda, mit der Hauptstadt Jerusalem. Das Nordreich war im Jahre 722 von den Assyrern erobert worden, wohingegen das Königreich Juda bis 586 überlebte. In der Regierungszeit des Königs Josia (640 – 609) gab es in Juda eine religiöse Besinnung, wodurch alte Traditionen neue Bedeutung bekamen (siehe 2. Könige 22 – 23). Der Prophet Jeremia trat in dieser Periode erstmals an die Öffentlichkeit. Er musste zusehen, wie Juda verzweifelt seinen Weg suchte zwischen den beiden Grossmächten: Ägypten einerseits, und Babylonien mit seinem Grosskönig Nebukadnezar (605 – 562) andererseits, der mit kühnen Feldzügen den ganzen vorderen Orient unter seine Gewalt brachte. Die judäischen Könige Jojakim (609 – 598) und Zedekia (597 – 586), die sich militärische Unterstützung von Ägypten erhofften, erfuhren den Zorn des Gross-königs. Zuerst wurde ein Teil der Einwohner Jerusalems nach Babylonien deportiert und die kostbaren Kultgeräte aus dem Tempel mitgenommen, dann ging auch die ganze judäische Elite ins Exil.
Diese Ereignisse regten aber unverhofft eine neue, starke Bewusstwerdung des jüdischen Volkes an. Die Besinnung auf sein Missgeschick führte zu einer prophetisch-kritischen Betrachtung der eigenen Vergangenheit. Ähnlich wie Jeremia es seinen Zeitgenossen vorhielt, wurde in Israel alle Wohlfahrt als Segen auf das Halten der göttlichen Gebote verstanden, alles Elend und zuletzt auch das nationale Desaster als Konsequenz von Israels Untreue. Diese Deutung der Geschichte finden wir zurück in den Bibelbüchern Deuteronomium, Josua, Richter, 1. und 2. Samuel und 1. und 2. Könige. Die Alternative “Segen oder Fluch”, wie sie in Deutero-nomium 28 systematisch dargestellt wird, entspricht ganz der prophetischen Verkündigung Jeremias.
Jeremia hielt dem Volk in jenen bangen Jahren aber nicht nur das göttliche Gericht vor. Er wies ihm auch den Weg in eine Zukunft, in der Gott sich wiederum seinem Volk zuwenden, ihm die Sünden vergeben und einen “neuen Bund” mit ihm schliessen wird. Das Volk wird seinem Gott aus reiner Liebe gehorchen: “Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben” (Jeremia 31, 31). Ein Nachkomme Davids, ein “gerechter Spross”, wird Recht und Gerechtigkeit schaffen (Jeremia 33, 15).
Bei diesen Verheissungen schliesst nun das Neue Testament nahtlos an. Wenn Jesus beim letzten Abendmahl den Kelch nimmt und spricht: “Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden” (Matthäus 26, 28), so bezieht er sich wörtlich auf den “neuen Bund”, von dem Jeremia schon sprach. Matthäus 5 – 7 (die Bergpredigt) atmet den selben Geist wie Jeremia 31 – 33. Jesus hat keineswegs eine andere Religion gründen wollen als die, worin er selber bis zu seinem letzten Atemzug gelebt hat. “Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen” (Matthäus 5, 17).
“Das Blut, das vergossen wird für viele” – ja, die Christen haben den Tod Jesu als ein Sühneopfer verstanden. Durch dieses Opfer, so verstehen sie es, wird ihnen der Weg zu Gottes Gnade gebahnt. Dass die gläubigen Juden es anders sehen, kann man ihnen nicht übel nehmen. Hätten die Christen doch nur mehr im Sinne der Bergpredigt gelebt! Juden und Christen sind parallele Wege gegangen und befinden sich noch heute, trotz macher Unterschiede, in vergleich-barer Lage. Die Juden hoffen auf die kommende Gottesherrschaft – auf ihren Messias. Die Christen bekennen, dass in Jesus von Nazareth der Messias gekommen ist; sie loben Gott dafür, und … sie warten, nicht viel anders als die Juden, auf Christi Wiederkunft, auf eine erfüllte Zukunft. In der langen Wartezeit bemühen sich Juden und Christen, nach Gottes Geboten zu leben.
Seit dem 19. Jahrhundert wird christlicherseits der Begriff “Heilsgeschichte” verwendet. Man versteht darunter die aufeinander folgenden Stufen eines göttlichen Planes, der von der Schöpfung bis zur Vollendung gedacht ist. Nach diesem Schema steht dann Leben, Tod und Auferstehung Christi in der Mitte dieser Geschichte; alles was vorher geschah, ist gewisser-massen Vorbereitung, was nacher kommt ist Gegenwart, Zukunft und Eschatologie. Also stünden die Propheten des Alten Testaments dann irgendwo zwischen Anfang und Mitte. Man kann das heilsgeschichtliche Schema freilich auch beanstanden als ein Produkt menschlicher Systematik, indem man benachdruckt, dass Gottes Güte für und für dieselbe ist und dass jeder, der an Ihn glaubt, in welcher Ära er auch lebt, zum Heil berufen ist.
Das Buch Jeremia ist für jeden, der es liest, spannende Lektüre. Mehr als irgend ein anderes Buch der Bibel schenkt es uns Einsicht in das innere Leben der Hauptperson: in seinen Zweifel und seine Verzweiflung, in seinen Kampf mit Gott und mit sich selber, in seinen Widerstand und seine Ergebung. Die schwankende Politik seiner jüdischen Heimat zwischen den beiden Gross-mächten, Ost und West, lässt sich gut projizieren auf unsere heutige Politik in der Ukraine.
Klaus van der Grijp