Die Sprache der grossen Liebe

Johannes 15, 1 – 8                                                                                                       29. Mai 2016

1 Joh 5 : 1 – 4

Der erste Johannesbrief steht voll von Andeutungen, deren Sinn wir uns erst einmal klarmachen sollten. Als Gläubige sind sind wir  – so sagt der Apostel – “von Gott (oder auch aus Gott) geboren.” Sehr schön, aber wie soll ich mir das vorstellen? Wie kann ich mir das veranschaulichen? Dass Gott etwa die Gläubigen gebiert, sie zur Welt bringt, wie eine Mutter ihre Kinder? Es wäre schön, wenn wir uns Gott so mütterlich vorstellen dürften, dass Ihm sogar eine Entbindung nicht fremd wäre. Aber diese Vorstellung geht mir nun doch ein bisschen zu weit. Der Gedanke an eine göttliche Geburt bringt mir vielmehr die Worte ins Gedächtnis, die der griechische Dichter Homer in seiner Odyssee öfters wiederholt. Er spricht von der “aus Nebeln geborenen, rosenfingrige Morgenröte.” Die Sonne geht auf, und durch die rosigen Nebelwolken bricht der Tag hervor. Das ist ein schönes Bild! So etwa könnte ich mir vorstellen, dass jemand aus Gott geboren wird! Und tatsächlich, wir finden das Bild auch in der Bibel, nämlich im Buch der Richter, wenn die Richterin Debora ihr Siegeslied singt (5, 31): “Die Ihn liebhaben – so singt sie – sollen sein wie wenn die Sonne aufgeht in ihrer Pracht.”

Gott liebhaben und aus Gott geboren werden – darum handelt es sich auch im Ersten Johannesbrief. Gott liebhaben, ja, das können wir – so heisst es (4, 19) –, “weil er uns zuerst geliebt hat.” Als Gläubige werden wir dessen teilhaftig, was zu Gott gehört. Und das ist an erster Stelle: seine Liebe, denn Gott ist Liebe. Unser Autor wiederholt das an mehreren Stellen, um es uns gut einzuprägen: Gott ist Liebe, Gott ist Liebe, Gott ist Liebe. Wer aus Gott geboren wird, bekommt Gottes Liebe als Geburtsgeschenk mit!

Es gibt – zumindest in der Wortwahl des Johannes – einen schroffen Kontrast zwischen Gott und der Welt. Wir wissen es: Die Welt ist zwar gute Schöpfung Gottes, aber sie ist auch das Vergängliche, das Flüchtige, das Unzuverlässige. “Die Welt vergeht mit ihrer Lust,” – wiederum zitiere ich den Ersten Johannesbrief –, “wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.” Dieses Bleiben, im Gegensatz zu allem Vergänglichen und Flüchtigen, das ist auch ein Begriff, den der Brief uns einschärfen will. Es ist wie das bekannte Jesaja-Wort (40, 8), das wir meistens in der Adventszeit lesen: “Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.” Unser Gott ist standhaft, zuverlässig; auch wenn alles um uns herum ins Wanken gerät – er ist der Bleibende und sein Wort hält stand. “Das Wort unseres Gottes!” Es ist nicht ein allgemeiner Gottesbegriff, wie etwa der Gott der Philosophen, nein, er ist unser Gott: der Bleibende ist bei uns und geht mit uns, so sagt es das Prophetenwort. Oder wiederum mit Johannes (1. Joh 2, 14): “Ihr seid stark und das Wort Gottes bleibt in euch.”

Welch eine Zusage! Die Stärke Gottes wird unsere Stärke, denn das Wort Gottes bleibt in euch.Es bleibt – da haben wir es wieder. In schwachen Augenblicken dürfen wir uns daran erinnern. Wenn wir an uns selber zweifeln, ob wir durchhalten werden, ob wir einer schweren Aufgabe auch gewachsen sein werden, so dürfen wir es uns sagen lassen: “Ihr seid stark und das Wort Gottes bleibt in euch.”

Gott in uns … Jemand wird mir sagen, das sei Mystik. Nun gut, aber so steht es in der Bibel, und es hilft uns, wenn die äussere Welt uns bedrängt: “Der in euch ist, ist grösser als der, der in der Welt ist” (4, 4), und “alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt” (5, 4). Das ist das Geheimnis aller jener Gläubigen, deren Mut und Beharrlichkeit für uns ein Beispiel geworden sind, sei es bei unseren eigenen Vorfahren, sei es irgendwann in der Geschichte der Christenheit. Denn sie wussten: Der in uns ist, ist grösser als der, der in der Welt ist, und alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt!

Gott in uns … Aber nun gilt auch das Umgekehrte: Wir in Gott! “Wer in der Liebe bleibt,” so heisst es, ”in dem bleibt Gott und er in Gott.” Gott ist sozusagen ein Raum, ein Schutz, ein Heiligtum, in dem ich als Gläubiger verweilen darf, und zwar nicht bloss für einen Augenblick, in einer Sternstunde meines Lebens, sondern ständig, ja, bleibend: ich darf bleiben in Gott! Das erinnert mich an die Psalmen, wo Gott unsere Burg genannt wird; dass wir unter dem Schirm des Höchsten sitzen dürfen und unter dem Schatten des Allmächtigen bleiben; dass er uns mit seinen Fittichen decken wird; dass wir Zuflucht haben werden unter seinen Flügeln, denn seine Wahrheit ist Schirm und Schild (Psalm 91, 1. 4). Nicht nur Gott will in mir bleiben, sondern auch ich darf bleiben in Gott! Das wird also gesagt von denen, die aus Gott geboren sind.

Nun kann es aber nicht anders, oder Johannes bringt dabei den zur Sprache, der als erster – vor allen Zeiten – aus Gott geboren ist: Christus, den eingeborenen Gottessohn. “Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer Gott vom wahren Gott.” Die innige Gemeinschaft zwischen Gott und dem Gläubigen wird vermittelt durch Christus, dem Scharnier, dem Gelenkpunkt zwischen Gott und uns. Johannes sagt das schon gleich zu Anfang seiner Epistel: “Unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn, Jesus Christus (1, 3).” Dementsprechend, ein paar Kapitel weiter: “Wer nun bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott, und er in Gott.” Wir wissen es: Christus ist nicht ein anderer, neben Gott, zu dem wir eine parallele Beziehung aufzubauen hätten, sondern er zeigt uns das Wesen Gottes, in ihm wird ja die Liebe Gottes offenbar. Wie können wir uns das vorstellen? Welches Bild schwebt uns dabei vor Augen?

Gleich wie wir uns unsere Beziehung zu Gott als eine Geburt vorzustellen versuchen, vermittelt uns das Evangelium des heutigen Sonntags ein Bild aus der Botanik: den Weinstock und die Reben. Auch hier handelt es sich um gegenseitige Durchdringung: Die Rebe ist nichts ohne den Weinstock. “Bleibt in mir,” so sagt Jesus, “und ich in euch. (…) Wer in mir bleibt, und ich in ihm, der bringt viel Frucht.”

Bleiben in Jesus, Jesus mit sich und in sich herumtragen – sind das etwa verschwommene, nebulöse Begriffe? Ich glaube es nicht. Es ist die Sprache der Liebe. Wer schon einmal richtig verliebt gewesen ist, kann es bestätigen. “Bei allem was ich tue, sage oder denke, steht sie mir vor Augen” – und das Mädchen wird sagen: “Bei allem muss ich immer wieder denken an ihn, an ihn, an ihn…” Herzliche Liebe zu Jesus lässt sich damit vergleichen. Und dann handelt es sich natürlich nicht um die Gefühlsregung eines Augenblicks, nicht um eine Liebe, die morgen wieder erkaltet. Nein: “Bleibt in meiner Liebe, bleibt in mir!” Es ist ein Aufruf zur Beständigkeit. In einem schönen Passionslied heisst es:

“In meines Herzens Grunde / dein Nam’ und Kreuz allein

funkelt all Zeit und Stunde, drauf kann ich fröhlich sein!”

Das wollen wir uns sagen lassen: Fröhlich sein – auch heute, ungeachtet aller unserer Sorgen! Amen.

Klaus van der Grijp