Keine Scheidewand mehr

Lukas 9, 1 – 6

Epheser 2, 17 – 22

5. Juni 2016

2. Sonntag nach Trinitatis

“So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen!” Nicht mehr Gäste und Fremdlinge – diese Wortkombination kommt dem Bibelleser irgendwie bekannt vor. Gäste und Fremdlinge – was waren das für Leute in der Welt der Bibel? Fremdlinge – ein Fremdling ist einer, der in einem Lande wohnt, wo er nicht zu Hause ist, dessen Sprache und Sitten ihm vielleicht fremd sind. Vom Erzvater Abraham wird gesagt, dass er ein Fremder war im Lande Kanaan, weil er irgendwo aus Mesopotamien stammte. Gott hatte ihm dieses Land zwar versprochen, aber er hatte darauf keinen Rechtsanspruch. Als seine Frau starb und er sie bestatten wollte, musste er dazu von den einsässigen Hetitern ein Grundstück kaufen – und er sagte zu ihnen: “Ich bin ein Fremder und Beisasse bei euch” (1. Mose 23, 4). In späteren Zeiten, als sich die Israeliten im Lande der Verheissung niedergelassen hatten, wurde ihnen durch das Gesetz des Mose eingeschärft, Fremde und Beisassen besonders nachsichtig zu behandlen – denn sie sollten nicht vergessen, dass ihre Väter hier einmal als Fremde gewohnt hatten.

Gehörte aber das Land nun wirklich den Israeliten? Hatten sie ein Anrecht darauf? Eigentlich durften sie niemals vergessen, dass das gute Land ein Geschenk Gottes war. Sie wohnten darin durch Gottes Gnaden! In einem Psalm (39, 13) heisst es: “Denn ich bin ein Fremdling bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter.” Die Fremdlingschaft setzt sich immer noch fort! Einem Bericht aus dem 1. Buch der Chroniken zufolge (29, 15) sieht der alte König David auf sein Leben zurück und betet: “Denn wir sind Fremdlinge und Gäste vor dir wie unsre Väter alle: unser Leben auf Erden ist wie ein Schatten und bleibt nicht.” Ah! Das geht aber noch einen Schritt weiter! David sagt nicht, dass er im Lande Israel noch ein Fremdling und ein Gast ist, sondern er sagt es über sein ganzes Leben auf Erden. Jetzt geniesst er es noch, aber es bleibt nicht – es ist flüchtig wie ein Schatten.

Leben wie ein Fremdling und ein Gast auf dieser Erde – das ist also die Andeutung einer Glaubens-weise!

Mit dieser Einsicht blättern wir weiter in der Bibel und kommen zum Brief an die Hebräer. Im 11. Kapitel lesen wir über den Glauben, und was der Glaube alles vermag. Ein Prediger, dessen Name uns unbekannt ist, durchläuft da die ganze biblische Geschichte von den ersten Menschen über Noah bis Abraham, und noch weiter. Dazu sagt er dann (Vs.13): “Diese alle sind gestorben im Glauben und haben das Verheissene nicht erlangt, sondern es nur von ferne gesehen und gegruesst und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden waren.” Der Verfasser des Hebräerbriefes macht dann einen nahtlosen Übergang vom Alten zum Neuen Testament, wenn er schreibt (Vs. 26), Mose habe die Schmach Christi für grösseren Reichtum gehalten als die Schätze Ägyptens, denn Gott hatte mit ihm und mit uns etwas Besseres vor. “Sie warteten auf die Stadt, die einen festen Grund hat, dessen Baumeister und Schöpfer Gott ist” (Vs. 10). Sie alle waren Gäste und Fremdlinge, denn sie wussten: Es gab für sie eine Heimat, eine Vaterstadt, in der sie einmal wirklich zu Hause sein würden.

So – und jetzt kommen wir zu unserer Epistellesung aus dem Epheserbrief: “Ihr seid nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.” Was sind wir nun eigentlich? Immer noch Gäste und Fremdlinge, wie die Glaubenshelden aus Hebräer 11? Oder wohnen wir bereits im Haus Gottes, das er uns erbaut hat? Ich glaube, wir sind beides, je nachdem von welcher Seite man es betrachtet. So wie Martin Luther über den gläubigen Menschen gesagt hat, er sei gleichzeitig ein Sünder und ein Gerechtfertigter, so sind auch wir gleichzeitig Fremdlinge und Hausgenossen Gottes – wir haben unsere Bürgerschaft im Himmel.

Unser Vorbild sind die Jünger Jesu, die – wie wir es im Evangelium lesen – auf Wanderschaft geschickt wurden: “Ihr sollt nichts auf den Weg mitnehmen, weder Stab noch Tasche noch Brot noch Geld; es soll auch einer nicht zwei Hemden haben. Wenn ihr in ein Haus geht, dann bleibt dort, bis ihr weiterzieht. Und wenn sie euch nicht aufnehmen, dann geht fort aus dieser Stadt und schüttelt den Staub von euren Füssen.” Ein Bild der Wanderschaft, der andauernden Pilgerschaft.

Fremdlinge und Gäste … Der Apostel Paulus sieht in Gedanken vor sich die Begegnung von Gläubigen zweierlei Art: die Altgläubigen, die Juden also, denen sich Gott schon vorzeiten offenbart hat, und die Neugläubigen, die ehemaligen Heiden, die jetzt von dieser Offenbarung ihr Teil bekommen. Uns als Neugläubigen wird gesagt: Seid herzlich willkommen, ihr gehört nun auch zu uns, Alt- und Neugläubige sind von nun an Hausgenossen. Fremdlinge und Gäste sind wir gewissermassen beide; schon Erzvater Abraham war ein Fremdling. Fremdlinge sind wir auf Erden, unser Leben ist wie ein Schatten und bleibt nicht. Aber das geistliche Haus, in dem wir wohnen, ist von den Aposteln und Propheten erbaut worden, und der Eckstein ist kein anderer als Jesus Christus.

In Christus und durch Christus gibt er keine Scheidewand mehr, wir gehören alle zusammen im einen Glauben.

Nun denke ich aber noch einen Schritt weiter. In der heutigen Welt handelt es sich nicht bloss um Juden und Nichtjuden. Kriege und Katastrophen haben Menschen aus vielen Nationen zusammengewürfelt: Europäer aller Art, Asiaten, Afrikaner. Viele sind Fremde füreinander, es gibt Scheidewände, manchmal auch wirklich Mauern, wodurch sie voneinander getrennt bleiben wollen.

Aber Christus ist Mensch geworden: Mensch, nicht Europäer, Asiat oder Afrikaner. Seine Mensch-werdung ist für uns, die wir an ihn glauben, ein Zeichen, dass wir grundsätzlich alle Hausgenossen sind. Keiner darf sagen: “Dies ist mein Land, meine Kultur, mein Volkstum – und ihr seid auf unserm Boden die Fremden.” Nein! Das sind Formen des Patriottismus und Nationalismus, die sich zwar immer wieder breit machen, die aber überwunden werden sollten.

Gäste und Fremdlinge sind wir gewissermassen alle, wir sind in dieser Welt auf Pilgerschaft. Ich glaube, es ist im Sinne des Apostels Paulus, wenn wir sagen: Dadurch, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat, müssen wir uns bei all unserer Verschiedenheit doch auch als Hausgenossen verstehen. Die Einheit von Altgläubigen und Neugläubigen ist sozusagen das Modell, nach dem die zerbröckelte und zerstückelte Menschheit den Weg zur gemeinsamen Grundlage finden kann. Der Nächste spricht zwar eine andere Sprache als du, er hat vielleicht eine andere Hautfarbe, eine andere Religion. Aber wir dürfen lernen zu sagen: Du bist ein Mensch wie ich, ich bin ein Mensch wie du.

In dieser einen Welt werden wir den Weg zueinander finden, einander akzeptieren um Christi willen. Amen.

Klaus van der Grijp