Richtet nicht!

Römer 14, 10 – 13

Lukas 6, 36 – 42

19. Juni 2016

4. Sonntag nach Trinitatis

“Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist! Wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht zurechnet, in dessen Geist kein Trug ist!” Der 32. Psalm ist ein Lied der Freude über die Güte Gottes. Ist das nicht eines der wesentlichen Dinge, wodurch sich der Gott der Bibel kennen lässt? Dass er barmherzig ist und gnädig und geduldig und von grosser Gnade und Treue? Dann ist aber in der Bibel auch die Rede vom Richterstuhl Gottes, vor den – nach des Paulus Worten im Römerbrief – wir alle einmal gestellt werden! Der Richterstuhl Gottes, das jüngste Gericht – nach welchen Normen werden wir dort beurteilt werden? Wird es dort eine Waage geben mit auf der einen Schale unsere guten Taten, auf der anderen, was wir Böses getan haben? Und stellt euch vor: Wenn die Waage zeigt, dass die bösen Taten schwerer wiegen als die guten – was dann? Wird der liebe Gott dann heimlich ein halbes Pfund von seiner Güte auf die leichtere Schale legen, so dass sie sich doch langsam hinunter neigt? Vielleicht …!

Ich glaube, es ist gut, wenn wir irgendwie in dieser Spannung leben und deswegen in unserm eigenen Verhalten die Güte, die Nachsicht zu betrachten versuchen, die wir uns von Gott erhoffen.

Jesus spricht: “Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist – und richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet.” Ich denke wiederum an das Bild der Waage. Auf die eine Schale lege ich, was mir an einer mir bekannten Person sympathisch ist. Auf die andere lege ich alles, was mich an diesem Menschen irritiert, was mich stört, was mich zornig macht. Sollte ich dann die Bilanz ziehen und vielleicht sagen: “Nein, mit so jemandem will ich nichts zu tun haben”? Weiss ich denn sicher, ob nicht meine Gereiztheit und meine Ungeduld die Waage auf die böse Seite haben ausschlagen lassen?

Habe ich auch wirklich richtig verstanden, was den andern getrieben hat, als er so-und-so handelte?

Es gibt in den modernen Sprachen einen schönen Ausdruck, den ich in diesem Zusammenhang für sehr wichtig halte: “Gib dem andern den Vorteil des Zweifels!” Im Zweifelsfall, urteile lieber zu seinen Gunsten. Es ist doch besser, den andern nicht zu verurteilen, auch wenn er es vielleicht verdient hätte, als den andern zu verurteilen, wenn es sich nachher zeigt, dass er unschuldig ist. Ich denke auch an kleine Vergeltungstaten im gesellschaftlichen Umgang. Wie oft handelt man nicht im Sinne von “wie du mir, so ich dir!” Früher waren wir einmal Freunde, aber diesmal hast du mir zu meinem Geburtstag nicht gratuliert – kein Telefonanruf, keine E-Mail, nichts. So! Morgen ist dein Geburtstag, da wirst du von mir auch keinen Glückwunsch bekommen…! Das wäre so ungefähr das biblische Vergeltungsprinzip,”Auge um Auge, Zahn um Zahn.” Es ist möglich, dass der andere meine Freundlichkeit nicht gut empfangen würde – nun ja, in dem Fall sei lieber zurückhaltend. Aber wiederum – im Zweifelsfall, enthalte dich eines Urteils!

Wie steht es nun aber mit Menschen, deren Lebensstil oder Weltanschauung wir nicht teilen?

Da kann es manchmal heftige Konflikte geben. Eltern und Grosseltern meinen, in ihren Kreisen pflege man einen gutbürgerlichen Lebensstil, so wie es sich eben gehört, oder man gehöre natürlich der Kirche an, in der man geboren und getauft worden ist. Wenn man als Mann und Frau einen gemeinsamen Haushalt aufbauen will, solle man doch erst heiraten! Aber siehe da: Die jungen Leute machen einfach alles, wie es ihnen passt: sie leben nur su drauf los und meinen, wir seien altmodisch!

Ja, aber auch hier sagt Jesus: “Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet; verdammt nicht, so werdet  ihr nicht verdammt; vergebt, so wird euch vergeben.” Vielleicht haben die jungen Leute über ihre Entscheidung besser nachgedacht als ihr meint, und sicher sind sie in einer anderen Gesellschaft aufgewachsen als ihre Eltern vor dreissig und ihre Grosseltern vor sechzig Jahren!

Freilich gibt es in der Gesellschaft eine Tendenz, wonach sich jeder nur für sich selbst verantwortlich fühlt und sich um die Ansicht anderer einfach nicht kümmert. Aber seien wir ehrlich: Eine Haltung der Gleichgültigkeit für den Nächsten und einer egoistischen Konzentration auf die eigenen Interessen hat es auch zu Grossmutters Zeiten schon gegeben! Vernünftig sind die Eltern, die durch ihre Lebensweise den Nachkommen die Werte zeigen, auf die es ihnen wirklich ankommt, so dass diese Nachkommen sich eines Tages mit Freude und vielleicht mit einem gewissen Stolz erinnern werden: Meine Eltern, meine Grosseltern – das waren prima Leute!

Auch wenn der Nächste auf religiösem Gebiet ganz anders denkt als ich, ist es meine Aufgabe, diesen Nächsten zu verstehen. Wir erleben in Westeuropa heute unterschiedliche Reaktionen auf die wachsende Zahl der Muslime. Es gibt eine schroffe Anti-Islam-Bewegung: “Je weniger solcher Leute wir in unsrer Umgebung haben, um so besser wird es sein!” Unser Urteil ist dann fertig. Zum Glück gibt es auch auch andere, die sagen: “Gerade jetzt können wir zeigen, dass wir dem andern ein Nächster sein wollen; wir können versuchen zu verstehen, was ihn treibt, was er erlebt hat, bevor wir ihn kennenlernten.” Ob sich der Muslim auch für unsern christlichen Glauben interessieren wird? Ich weiss: da gibt es Barrieren. Aber sicher ist, dass der andere uns nicht verstehen will, wenn wir unsererseits uns nicht bemühen, ihn zu verstehen. Die Grundfrage: Wenn ein Muslim betet, betet er dann zum selben Gott wie wir bei unserm Vater-Unser? Wer wird darüber urteilen? Bete aufrichtig und von ganzem Herzen, wer immer du bist! Und vor dem Richterstuhl wirst du einmal die Antwort wissen.

In meiner Heimat habe ich Signale der Grosszügigkeit kennengelernt: Muslime, die eine Gruppe von Christen einladen zum Ende des Ramadan: “Lernt unsere Bräuche kennen, kostet die Spezialitäten, die wir zu diesem Fest bereitet haben!” Und dann ist der nächste Schritt: Wir laden die Muslime zu unserer Weihnachtsfeier ein, wir lassen sie unsere schönen Weihnachtslieder hören und lassen sie von unserm Weihnachtsgebäck kosten. Solche Kontakte machen klar, dass wir zwar anders denken und anders glauben, dass wir aber füreinander offenstehn und einander das Beste gönnen. Man verliert die Angst voreinander, die zur Abschottung führen könnte; man verliert das Misstrauen, das dazu führen kann, jedem bösen Klatsch über den andern zu glauben.

“Gebt – sagt Jesus – und es wird euch gegeben werden.” Dies sagt er im Zusammenhang mit unserm Urteil über den Nächsten: Sei nicht kritzelig und nicht knauserig. “Ein volles, gedrücktes, gerütteltes uns überfliessendes Mass wird man euch in den Schoss geben. Mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.” Amen.

Klaus van der Grijp